12. April 1920 – als die Stolberger Düngerfabrik explodierte

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12. April 1920: Blick vom nördlichen Rand des Betriebsgeländes der Stolberger Düngerfabrik auf die Verbindungsbahn und die im Hintergrund erkennbaren Gebäude der Firma Peters Fabrik für feuerfeste Produkte. Der Unglücksort befand sich ungefähr dort, wo heute die Überführung der Königin-Astrid-Straße über den Saubach und die Gleise des Stolberger Hauptbahnhofs beginnt.

Am 12. April 1920 gegen 14 Uhr ereignete sich eines der schwersten Unglücke in der Stolberger Stadtgeschichte. Eine gewaltige Explosion vernichtete die Stolberger Düngerfabrik (vormals A. Schippan & Co.) und riss mindestens 22 Menschen in den Tod. 100 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Ein Krater von 25 bis 30 Meter Durchmesser und rd. 5 m Tiefe ließ erahnen, welche Kräfte bei der Explosion freigesetzt worden waren. Die Druckwelle der Explosion ließ noch im Umkreis von rund einem Kilometer Fensterscheiben und Dachziegel bersten. Selbst in der Arbeitersiedlung am Schnorrenfeld wurden noch Menschen von umherfliegenden Glassplittern verletzt.

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Auf diesem Lageplan aus dem Jahre 1902 ist die Lage der Stolberger Düngerfabrik (am rechten Bildrand) deutlich sichtbar. Die im unteren Drittel eingezeichnete „Provinzialstraße zum Rheinischen Bahnhof“ ist die heutige Rhenaniastraße.

Um die Gründe dieses Unglückes zu verstehen, muss man sowohl die wirtschaftliche Entwicklung des Stadtteils Atsch als auch die schlimmen Verhältnisse in der Besatzungszeit kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges näher betrachten. Wegen der reichen Erzvorkommen in der näheren Umgebung hatte sich in Stolberg schon im 19. Jahrhundert eine umfangreiche Zinkindustrie entwickelt. Bei der Aufbereitung der Erze (zunächst Galmei, später Zinkblende) wurden in Öfen schwefelhaltige Bestandteile durch Verbrennung entfernt und in Rauchgasen gelöst. Bei diesem Rösten entwich sehr viel giftiges Schwefeldioxyd, das nicht nur die Arbeiter schlimm schädigte, sondern auch schwere Umweltschäden verursachte. Dem Apotheker Friedrich Wilhelm Hasenclever gelang es, eine Methode zu entwickeln, wie aus Zinkblende Schwefelsäure gewonnen werden konnte. Zur industriellen Nutzung seines Verfahrens errichtete er im Stadtteil Atsch die „Waldmeisterhütte“. Aus Schwefelsäure wurde dort u.a. auch Soda hergestellt, das er an die Stolberger Glasindustrie absetzen konnte. Schwefelsäure war zudem als Grundstoff zur Produktion von Düngemitteln nutzbar. So siedelten sich schließlich in der Umgebung der Waldmeisterhütte Firmen an, die die Produkte der Waldmeisterhütte weiterverarbeiteten. Eine davon war die Firma Dr. Alexander Schippan und Co., die sich auf die Herstellung von Kunstdünger spezialisiert hatte. Vor dem Explosionsunglück war sie allerdings schon von der angrenzenden „Chemischen Fabrik Rhenania“ (später „Kalichemie“) übernommen worden.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden zur Herstellung von Kunstdünger u.a. auch große Mengen von Stickstoff verarbeitet. Stickstoff war seinerzeit relativ günstig als Bestandteil von Kriegsmunition, die vernichtet werden sollte, zu erwerben. Mit der Umarbeitung von Munition und dem Zerlegen in wirtschaftlich nutzbare Bestandteile war u.a. auch die Firma „Espagit“ in Kehr bei Hallschlag/Eifel beschäftigt, bei der sich am 29. Mai 1920 ein ähnlich schweres Explosionsunglück ereignete. Im Zusammenhang mit dem Unglück in Stolberg schrieb der Regierungspräsident aus Trier am 12. Mai 1920 an den Minister für Handel und Gewerbe in Berlin: „Die Sprengstoffabrik Espagit in Hallschlag hat im vergangenen Jahre für die Firmen Schweitzer und Oppler in Berlin und die Firma Sekuritas in Bochum Entlaborierungsarbeiten von Granaten ausgeführt. Zu den für die Firma Schweitzer und Oppler ausgeführten Arbeiten äußert sich die Espagit folgendermaßen: „Im Juni 1919 übernahmen wir im Lohnvertrag die Entladung der von der Firma Schweitzer und Oppler in Berlin von der amerikanischen Heeresverwaltung in Coblenz käuflich erworbenen Beutemunition. Unter dieser Beutemunition waren rund 20 Tonnen Ammonalladungen. Diese wurden von der Firma S. & O. als deren Eigentümer durch den auf unserem Werk anwesenden Herrn Nachschön als Kunstdünger infolge ihres Stickstoffgehaltes an die Landwirtschaftskammer in Bonn verkauft. Vor dem Versand dieser Sprengladungen wurde der an den Sprengladungen befindliche TNT-Körper entfernt. Die Ammonalladung wurde mittels Holzstampfer zerkleinert und mit Sand gemischt ……. Die sämtlichen zum Versand gekommenen 21 Waggonladungen wurden durch die Firma S. & O. an die Station Hermülheim bei Cöln zur Verfügung der Landwirtschaftskammer Bonn aufgegeben. Mit der Verarbeitung und dem Verkauf dieser Sprengladungen als Kunstdünger hat unsere Firma nicht das geringste zu tun ….
In anderen Quellen wird auch eine Menge von rd. 100 to statt 20 to. angegeben, was vermutlich zutreffender sein dürfte. Gleichzeitig findet sich dort der Hinweis, dass diese 100 to. von dem Landesprodukte- und Düngerhändler Schneider aus Hermülheim bei Bonn erworben worden sein sollen.
Bei der Espagit in Hallschlag wurde aus der Munition der Ammonalkörper (der Sprengstoff) in faustgroße und teils kleinere Stücke zerkleinert. Dabei wurden auch Rauchentwickler aus rotem Phosphor entfernt. Diese Masse wurde anschließend mit dem Kalisalz „Kainit“, weiteren Substanzen und Sand gemischt und als „Kaliammonsalpeter“ verkauft. Der Versand erfolgte in offenen Waggons, von denen mindestens 16 Waggons nach Düsseldorf und nach Brüggen (Erft) gingen. Ein Waggon soll an einen Händler in Belgien geschickt worden sein. Dieser Waggon wurde an der Wucherabwehrstelle Aachen (Grenze) beschlagnahmt und an die Düngerfabrik (vormals Firma Schippan) in Stolberg mit der Bitte gesandt, die Ladung nachzubearbeiten und das grobstückige Material wieder streufähig zu machen.
An welchen Stellen des Materialbearbeitungsprozesses nun fehlerhaft gearbeitet worden war, wo Arbeiter evtl. auch andere Bestandteile unter dieses Ammonal gemischt haben, ob die zum Unglück führenden chemischen Prozesse bereits in dem Eisenbahnwaggon begonnen hatten, bevor er bei der Stolberger Düngerfabrik eintraf oder die Nachbearbeitung in Stolberg unsachgemäß erfolgte, ist nicht abschließen geklärt worden und letztlich offen geblieben.
Ein Bericht des Chemischen Untersuchungsamtes Aachen vom 25. April 1920 erklärt die Ursache der Explosion in Stolberg durch die Lagerung des Materials auf großen Haufen. „Es ist nicht ausgeschlossen, daß, wenn Rauchentwickler sich in dem Material befanden, auch Pikrinsäure-Initiale vorhanden gewesen sein kann. Die Reaktion zwischen Ammonal und Pikrinsäure bei Gegenwart von Feuchtigkeit kann allmählich vor sich gegangen sein und hat die Zersetzung jedenfalls ihren Höhepunkt erreicht, als die Leute mit dem Wiedereinladen in den Waggon beschäftigt waren.“

Bei der Sichtung der teilweise widersprüchlichen Quellen sollte man allerdings auch bedenken, dass die ermittlungstechnischen Möglichkeiten in der damaligen Zeit noch nicht so detailliert und ausgefeilt waren wie heute. Vielleicht haben die Menschen 1920 nach der in vier langen Kriegsjahren gesammelten „Erfahrung“ im Umgang mit Munition nachlässiger gehandelt als es geboten war. Zudem werden möglicherweise auch weder die Eigentümer noch deren Auftraggeber ein Interesse gehabt haben, die wahren Unglücksursachen an die Öffentlichkeit kommen zu lassen. Insoweit birgt die Explosion der Stolberger Düngemittelfabrik gewiss noch einige Geheimnisse….

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Durch die Druckwelle der Explosion wurde das 1888 erbaute Empfangsgebäude des Stolberger Hauptbahnhofs schwer in Mitleidenschaft gezogen. Sämtliche Fensterscheiben gingen zu Bruch und große Teile der Dachflächen wurden abgedeckt. Erstaunlicherweise hatten die an den Giebelseiten im Dachbereich aufgesetzten Schmuckelemente aus Sandstein der verheerenden Druckwelle standgehalten.

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Im Gegensatz zu dem vorherigen Bild muss dieses Bild später entstanden sein. Wie hier bspw. im Dachbereich des Postamtes (rechts) zu sehen ist, haben schon erste Instandsetzungsarbeiten stattgefunden. Zahlreiche Stolberger haben sich zur Umgebung des  Unglücksortes begeben, um sich ein eigenes Bild von den Zerstörungen zu machen.

Zum Gedenken an die Unglücksopfer wurde 1922 auf dem städtischen Friedhof an der Bergstraße ein über 2 Meter hohes, einer riesigen Urne ähnelndes Denkmal errichtet.

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Das Denkmal zum Gedenken an die Unglücksopfer ist heute von zahlreichen Kriegsgräbern umgeben. Es befindet sich allerdings in einem stark verwitterten und teils desolaten Zustand. Die Inschriften, insbesondere die an den Seiten aufgelisteten Namen der Opfer, sind kaum noch lesbar (oben und unten).
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2 Gedanken zu „12. April 1920 – als die Stolberger Düngerfabrik explodierte“

  1. Hallo Roland,

    da hat es wohl auch das Gütergleis der AKG zum Holzlager der Rhenania erwischt. Ein Straßenbahnmast mit Ausleger ist stehengeblieben, den Rest hat der Druck der Explosion weggepustet.
    Viele Grüße aus Aachen
    Reiner

  2. Hallo, meine Schwester hatte in diesem Gebäude auf der rechten Seite viele Jahre dort gewohnt. Insofern bin ich da auch eigentlich mit aufgewachsen und finde es interessant, wie und was dort damals passiert ist. Es mag vielleicht sich blöd anhören, aber meine Schwester und ich haben dort des öfteren seltsame Geräusche gehört und meine Schwester konnte Personen sehen, die sonst keiner sehen konnte. Wir haben oft darüber gesprochen und weiß bis heute nicht, was da jetzt genau war. Was ich sagen will damit, das ich an eine Art verloren gegangegangene Seelen glaube, die dort Zuflucht gesucht haben. Manche Leute können glauben, was sie wollen, aber ich kann auch nur das sagen, was ich selber miterlebt habe, noch heute bin ich oft dort, weil auch meine Schwester mittlerweile verstorben ist und ich weiß, das ihre Seele jetzt auch dort ist!! Danke, das man so eine tolle ausführliche Geschichte lesen darf, erst jetzt wird mir auch einiges klar, weiter so!! L. G. M. Mommer

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