In klischeehaften Vorstellungen ist das Ruhrgebiet immer noch ein schmutziger Landstrich, in dem die rußgeschwärzten Wohnsiedlungen zwischen Hochöfen, Stahlwerken und rauchenden Fabriken eingezwängt sind und die Städte von einer verwirrenden Zahl von Eisenbahnstrecken durchquert werden. Doch im Jahre 2010 sucht man im Ruhrgebiet meist vergeblich nach diesem Bild. Wie überall, sind Wohnen und Arbeiten mittlerweile deutlich getrennt und die störenden Industriebetriebe sind, soweit sie nicht ohnehin der Kohlenkrise und dem Strukturwandel in der Stahlindustrie zum Opfer gefallen sind, aus den Stadtzentren verlagert worden.
Wer heutzutage noch einen Eindruck vom Ambiente einer Industriestadt wie vor fünfzig oder hundert Jahren bekommen möchte, der könnte in der belgischen Stadt Seraing bei Lüttich fündig werden. Für industriegeschichtlich interessierte Menschen ist Seraing heute gerade deshalb eine Reise wert, weil es den Charakter der alten von Bergbau und Stahlerzeugung gezeichneten Industriestädte weitgehend behalten hat.
Seraing war einer der Ausgangspunkte der „industriellen Revolution“ auf dem europäischen Kontinent und entwickelte sich rasch zu einem der zentralen Industriestandorte Belgiens. Die nahegelegenen Kohlenvorkommen im heutigen Stadtteil Jemeppe-sur-Meuse und im übrigen Lütticher Becken und die günstige Lage an der Maas boten der Stadt eine gute Basis für die Entwicklung zum Stahlstandort. Der Name der Stadt Seraing ist eng verbunden mit den beiden Brüdern John und James Cockerill. Schon im Jahre 1816 betrieb die Familie Cockerill in Seraing bspw. mehrere Hochöfen, ein Stahl- und Walzwerk, eine Maschinenfabrik, zwei Steinkohlegruben, eine Erzgrube und eine Kesselschmiede und beschäftigte dort rd. 2.500 Arbeiter. Nach der Belgischen Revolution von 1830 begann unter Führung von John Cockerill der Aufstieg zur „Societe Anonyme des Etablissements John Cockerill“ (S. A. Cockerill), einem der großen europäischen Stahlkonzerne. Seraing wurde dabei zu einem der Brennpunkte der belgischen Industrie. So war die Firma Cockerill etwa der erste Hersteller von Eisenbahnmaterial auf dem europäischen Kontinent. Sie lieferte das Gleisbaumaterial für die erste Eisenbahn auf dem europäischen Festland, die Strecke von Brüssel nach Mecheln, und auch deren erste Lokomotive aus belgischer Fertigung. Mit dem Namen Cockerill sind technologische Fortschritte wie beispielsweise die Kokshochöfen oder der Einsatz des Bessemer-Verfahrens zur Stahlherstellung verbunden. Auch im Lokomotivbau machte sich die Firma Cockerill einen Namen.
Und es gibt auch eine historische Verbindung zwischen Seraing und Stolberg! Denn im Jahre 1837 dehnte die Familie Cockerill ihre Tätigkeit auch nach Stolberg aus, wo sie u.a. die St. Heinrich-Zinkhütte in Münsterbusch und in deren direkter Nachbarschaft das Bergwerk James-Grube errichtete. In Stolberg erinnert die Cockerillstraße an dieses Kapitel der euregionalen Industriegeschichte.
Seraing zählt heute etwa 62.500 Einwohner. Die beiden ähnlich strukturierten Nachbarstädte Ougrée, Jemeppe-sur-Meuse und Boncelles sind 1977 mit Seraing verschmolzen worden. Obwohl der Strukturwandel auch in Seraing tiefe Spuren hinterlassen hat, konnte Seraing sich immer noch einen Teil seiner Schwerindustrie erhalten. Und immer noch liegen Hochöfen und Schwerindustrie mitten im Stadtgebiet. Neben der weiterhin produzierenden Eisen- und Stahlindustrie gibt es zudem umfangreiche Brachflächen stillgelegter Industrieanlagen und heruntergekommener Stadtviertel, die ihrerseits einen eigenen, morbiden Charme ausstrahlen.
Ohne all zu viele Worte folgt hier eine etwas umfangreichere Fotoreportage von einem im Juli 2011 unternommenen Ausflug nach Seraing- Ougrée und dem vorgelagerten Rangierbahnhof (Lüttich-) Kinkempois:
(alle hier gezeigten Fotoswurden im Juli 2011 aufgenommen)
Tja, auch das ist alles schon Geschichte, sodaß wir uns den Weg nach Lüttich/Seraing mittlerweile sparen können.
Hochöfen, Kokereien, LD-Stahlwerk und Walzstraßen entlang der Maas wurden bereits ein Opfer der Globalisierung – sprich der Übernahme durch ArcelorMittal.
Zu meiner Überraschung haben die Belgier nach Jahrzehnten des relativen Nichtuns in Sachen Abriss von alten Montanstandorten seit 2010 den Schlagtakt ihrer Abrissbirnen deutlich erhöht – besonders erschreckend ist dies jetzt rund um Lüttich zu beobachten.