Die abenteuerliche Ausreise der 064 305

Da das Lichtraumprofil der britischen Eisenbahn kleiner ist als das „kontinentaler“ Eisenbahnen, ist es sehr ungewöhnlich, dass Bundesbahndampfloks den Weg nach England gefunden haben. Allerdings gibt es mit der  „Severn Valley Railway“ eine britische Museumseisenbahn, auf der der Einsatz solcher Fahrzeuge möglich schien und die ein solches Experiment wagte.
Im Jahre 1973 entschloss sich eine Gruppe britischer Eisenbahnfreunde von der Museumsbahn „Severn Valley Railway“ zum Kauf einer Bundesbahndampflok der Baureihe 64. Seinerzeit hatte die DB noch etwa 20 Loks dieser kompakten Baureihe im Bestand. Die britischen Museumseisenbahner interessierten sich zunächst für den Kauf der beim Bw Crailsheim stationierte Lok 064 289, die zum Preis von rd. 15.000 DM angeboten wurde.

Letztlich kauften die britischen Eisenbahnfreunde im Mai 1974 aber die beim Bw Weiden in der Oberpfalz stationierte Lok 064 305 zum Preis von 16.000 DM. Der Transport der Lok bis zur deutschen Grenze war im Preis eingeschlossen. Allerdings reichte das zur Verfügung stehende Budget noch nicht aus, neben dem Kauf der Lok auch schon den Weitertransport nach England zu bezahlen. Und so kam das Bw Stolberg für einige Zeit zu einer 64er als Gastlok.

064 305 wurde zunächst von einer Dampflok der BR 044, die in das AW Braunschweig musste, bis dort mitgenommen. Anschließend wurde sie von einer Stolberger Dampflok der BR 50, die aus dem AW zurückkam, nach Stolberg mitgenommen, wo sie am 20. September 1974 eintraf.

Das Stolberger Werkstattpersonal befand, die Lok sei in einem schlechten Zustand und begann nebenher, die Lok im Rahmen der Möglichkeiten auszubessern. Am 7. Oktober 1974 besuchte eine Delegation englischer Eisenbahnfreunde das Bw Stolberg, um die Lok kennenzulernen. Zu diesem Anlass wurden eigens noch einmal die Lokschilder angebracht. Ansonsten war die Lok bestenfalls nur mit Kreide beschriftet. In ihrer Ausgabe vom 9. Oktober 1974 berichtete die „Stolberger Volkszeitung“ von der Präsentation der Lok.

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Da zu dieser Zeit noch nicht bekannt war, wie lange 064 305 in Stolberg bleiben würde, hat mein Bruder am 9. Oktober 1974 für mich diese Fotos von der im Lokschuppen geparkten Lok aufgenommen.

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Am 16. Oktober 1974 stand 064 305 neben der Stolberger Dampflok 052 549 im Lokschuppen

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Am 19. November hatte man 064 305 in die Wagenhalle geschoben. Dort habe ich sie zusammen mit der Lok 053 031 aufgenommen.

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Am 8. Februar 1975 weilte erneut eine Gruppe britischer Eisenbahnfreunde im Bw Stolberg, um dort die 064 305 zu begutachten. Dabei wurde die kalte Lok von 050 622 aus der Wagenhalle herausgezogen.

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Im klaren Licht der Morgensonne gab es vor der Wagenhalle zunächst eine Fotogelegenheit mit der Stolberger Lok 051 791
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Anschließend zog 050 622 die „Kleine“ bis in Höhe der Bekohlungsanlage…..

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wo es Gelegenheit zu weiteren Fotos gab:

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Später wurde 064 305 wahrscheinlich im nordöstlichen Teil des Ringlokschuppens aufbewahrt.
Bis zum Sommer 1975 hatte man bei der „Severn Valley Railway“ genug Geld gesammelt, um die Kosten des Weitertransports nach England zu bestreiten. Am Mittwoch, dem 25. Juni 1975 traf deshalb ein Team der englischen Museumsbahn in Stolberg ein, um die Lok für den Abtransport vorzubereiten.

Hier wird 064 305 am frühen Morgen des 26. Juni 1975 im Bw Stolberg für den Abtransport nach England vorbereitet

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Am sonnigen Morgen des 26. Juni 1975, einem Donnerstag, wurde 064 305 mit einer Ehrenrunde auf der Drehscheibe von der Stolberger Bw-Mannschaft verabschiedet.

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Anschließend wurde 064 305 im Bezirk III des Stolberger Hauptbahnhofs zur Fahrt über die Vennbahn bereitgestellt.

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Im Schlepp von 052 928 verließ sie um 07:33 Uhr Stolberg Hbf in Richtung Raeren. Die englischen Eisenbahnfreunde erlebten die Fahrt standesgemäß auf dem Führerstand der 064 305. Bei dieser Gelegenheit entstand kurz nach dem Verlassen des Stolberger Hauptbahnhofs auch dieses Foto im Bereich Schnorrenfeld. Links erstreckt sich das Werksgelände der „St Gobain“-Glashütte.

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Wenn auch nicht mit eigener Kraft, so bestritt 064 305 die erste Etappe ihrer Reise über die Grenze bis zum belgischen Bahnhof Raeren immerhin im Schlepp der dampfenden 052 928.  Um 10:36 Uhr trafen beide Loks in Raeren ein. Dort entstanden am 26. Juni 1975 diese beiden Fotos:

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In Raeren wurde die Lok von der Belgischen Eisenbahn geprüft und erhielt die Erlaubnis, am 27. Juni 1975 um 07:45 Uhr mit einer Geschwindigkeit von maximal 30 km/h von Raeren aus zum Hafen von Zeebrügge geschleppt zu werden.

Am Abend des 26. Juni 1975 ruhte 064 305 sich für die nächste Etappe aus….

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Den ersten Teil der Fahrt von Raeren bis nach Hasselt wurde sie von der SNCB-Rangierlok 8411 gezogen. Mit einer einstündigen Pause in Tongeren erreichte der Transport um 12:45 Uhr Hasselt. In Hasselt übernahm die SNCB-Lok 5160 die nächste Etappe bis Gent. Nach nochmaligem Lokwechsel erreichte 064 305 den Hafen Zeebrügge um 22:10 Uhr. Am Montag, den 30. Juni 1975 wurde 064 305 morgens auf eine Fähre verladen, mit der sie um 16:20 Uhr in Harwich eintraf. Bis gegen 17:30 Uhr war sie dort auf ein Seitengleis rangiert worden, wo sie auf ihren Weitertransport per Straßentieflader wartete. Wegen unvorhergesehener Schwierigkeiten verzögerte sich die Weiterfahrt jedoch, so dass 064 305 erst am 14. Juli 1975 in ihrer neuen Heimat Bridgnorth eintraf.
Am Ende haben die beharrlichen britischen Eisenbahnfreunde das Abenteuer des Loktransports dennoch erfolgreich abgeschlossen und konnten 064 305 auf ihrer Museumsbahn wieder in Betrieb nehmen. Allerdings hat der Transport letztlich mehr Geld verschlungen als der Kauf der Lok selbst.

Die Ausreise der 64 305, insbesondere die Fortsetzung der Reise durch Belgien nach England, hat Hubert Fingerle hier beschrieben.

In der Kundenzeitschrift „Blickpunkt DB“ wurde in der Ausgabe Dezember 1975 über diesen ungewöhnlichen Transport berichtet:
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Leider hatte die „Severn Valley Railway“ nicht viel Freude an der Lok, weil es wider Erwarten an einzelnen Punkten der Strecke Probleme mit dem Lichtraumprofil gab. So mussten die Museumsbahner den geplanten Einsatz im Jahre 1976 aufgeben.
Dennoch ist 64 305 bis heute erhalten geblieben. Den Jahreswechsel 2008/2009 erlebte sie bei der englischen „Nene Valley Railway“, allerdings in schlechtem Zustand.

Ohne die Unterstützung der Eisenbahnfreunde Roger Scanlon, der maßgeblich an diesem Unternehmen beteiligt war und freundlicherweise viele seiner Fotos beigesteuert hat und  Hubert Fingerle, der auch als Vermittler tätig wurde,  wäre es mir nicht möglich gewesen,  diese Episode aus der Geschichte des Bahnbetriebswerks Stolberg nachzuzeichnen.  Für ihre Mitwirkung und die vielen bereitgestellten Informationen danke ich beiden sehr herzlich.


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